Echt lieb vom Samichlaus [Drucken / PDF]
Anna Braun; aus: Nikolaus- und Adventsgeschichten; Benziger Edition
Nina war ein süsses Mädchen, darin waren sich alle einig. Sie hatte langes,
dunkelbraunes Haar, das meist zu einem frechen Pferdeschwanz zusammengebunden
war, grosse, braune Augen und einen Charme, mit dem sie alle um den Finger wickelte.
Die Schule bereitete ihr keine grosse Mühe, das konnte sie jetzt in der ersten Klasse
voller Überzeugung behaupten. Tja, eigentlich hatte sie nur einen grossen Fehler, der
sie allerdings längst nicht so sehr störte wie ihre Mutter: Sie war, gelinde gesagt, etwas
vergesslich, oder - wie ihre Mutter es auszudrücken pflegte - ziemlich schlampig.
Die schönen Farbstifte, die sie im Sommer zum Geburtstag bekommen hatte, liess sie
irgendwann im Garten liegen - und fand sie dann am nächsten Tag nicht wieder. Auch
die hübschen Haarspangen mit der weissen Schleife, die Tante Beate bei ihrem letzten
Besuch mitgebracht hatte, nahm sie irgendwo aus dem Haar - und vergass sie dann,
zumindest bis zum nächsten Morgen, als sie fieberhaft danach suchte. Ein ähnliches
Schicksal ereilte die bunte Perlenkette, die Vater ihr von einer seiner Geschäftsreisen
mitgebracht hatte.
"Nina, ich habe es wirklich satt, auf Schritt und Tritt über deine Sachen zu stolpern, die
überall herumliegen", pflegte ihre Mutter zu schimpfen, doch auch das konnte Nina nicht
dazu bringen, besser darauf aufzupassen. "Erst neulich habe ich deine goldene Kette
mit dem Kreuzchen vor der Garage gefunden. Du hast sie nicht einmal vermisst!"
Nina war froh, dass Mama die wertvolle Kette, die Oma ihr zum Schulanfang geschenkt
hatte, zufällig wieder gefunden hatte. Nicht, dass sie es nicht auch lästig gefunden hätte,
ständig alles zu verlieren, es war nur so, dass sie immer so viele Dinge im Kopf hatte
und so viele neue Ideen ausheckte, dass für praktische Überlegungen einfach kein Platz
blieb.
Inzwischen war es Ende November. Draussen war es kalt und regnerisch, als Nina
eines mittags mit roten Wangen, aber ohne die neue lila Strickmütze nach Hause kam.
Mutter bemerkte es sofort.
"Nina, wo bitte ist deine Mütze? Du hast sie doch nicht etwa wieder verschlampt?"
Nina fiel aus allen Wolken, doch der rasche Griff ins Haar bestätigte ihr, dass Mutter
recht hatte. "Oh, die muss ich im Bus vergessen haben!" gestand sie verlegen. "Ich
werde den Busfahrer morgen früh danach fragen."
Aber, wie nicht anders zu erwarten, war Nina am nächsten Morgen viel zu sehr in das
Gespräch mit ihrer Freundin Julia vertieft, als dass sie an ihre Mütze gedacht hätte.
Natürlich war die Mutter alles andere als erfreut, als ihre Tochter auch am nächsten Tag
ohne die neue Mütze nach Hause kam. "Oh, Nina, was mache ich bloss noch mit dir?
Ich kann dir sagen, was ich will, es geht bei dir zum einen Ohr hinein und zum anderen
wieder hinaus!" "Kunststück", mischte sich da der Ältere Bruder Andreas ins Gespräch.
"Ist ja auch nichts da, was es aufhalten könnte!" Diese Bemerkung brachte ihm einen wütenden Fusstritt der kleinen Schwester und einen tadelnden Blick der Mutter ein. Kurz
darauf war die Sache jedoch vergessen, denn Nina beschäftigte sich eingehend mit
Gedanken an den Nikolaus, der in wenigen Tagen kommen sollte.
"Oh, Mami, ich bin schrecklich gespannt, was er mir dieses Jahr mitbringen wird",
seufzte Nina sehnsüchtig. "Ob er meinen Wunschzettel mit dem Webkasten wohl
bekommen hat?" "Bekommen hat er ihn bestimmt", beruhigte sie die Mutter, "aber ob
du dieses Jahr wirklich ein Geschenk verdient hast, weiss ich nicht so recht." "Aber
Mami", meinte Nina besänftigend und blickte ihre Mutter aus grossen, unschuldigen
Augen an.
Der ersehnte Nikolaustag war endlich da. Nina war den ganzen Tag über zappelig und
ungeduldig, und beim Abendessen brachte sie vor Aufregung kaum einen Bissen
hinunter. Schliesslich klingelte es, und kurz darauf traten zwei grosse Männer ins
Wohnzimmer: der Samichlaus und der Schmutzli.
Der Samichlaus war in ein rotes, langes Gewand gehüllt, der Schmutzli trug eine braune
Kutte und hatte einen grossen Sack über der Schulter hängen. Nina sagte brav ihr
Verslein auf und wartete gespannt auf ihr Geschenk. Doch zuerst war Andreas an der
Reihe. Er erhielt das ersehnte Tierbuch, und Nina wagte vor Spannung kaum zu atmen,
als sich der Samichlaus mit tiefer Stimme erneut an Schmutzli wandte.
"Und nun, lieber Schmutzli, sieh doch einmal nach, was wir für die kleine Nina
mitgebracht haben!"
Der Schmutzli griff in seinen grossen Sack und förderte einen Beutel zutage, der mit
einer hübschen roten Schleife zugebunden war. Nina war enttäuscht. Das konnte
unmöglich ein Webkasten sein! Mit flinken Fingern öffnete sie den Beutel und glaubte
ihren Augen nicht trauen zu können. Vor ihr lagen all ihre verloren geglaubten Schätze:
die beiden Haarspangen mit der weissen Schleife, die bunte Perlenkette, der Kasten mit
den Farbstiften, ihre lila Strickmütze, die sie im Bus vergessen hatte, und noch einige
Kleinigkeiten mehr, die sie im Laufe des Jahres irgendwo liegengelassen hatte. Sie
schluckte und wusste nicht so recht, ob sie sich freuen oder ärgern sollte.
"iebe Nina", sagte der Samichlaus, als er ihren erstaunten Gesichtsausdruck sah, "ich
muss wohl nicht viel dazu sagen. Ich hatte das ganze Jahr über meine liebe Mühe, all
die Sachen einzusammeln, die du achtlos liegen gelassen hast. Nun, ich hoffe, das wird dir
eine Lehre sein." Nina kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Doch der Samichlaus
war noch nicht fertig. "Falls das im nächsten Jahr besser wird, kann ich dir deine
Wünsche erfüllen, doch dieses Jahr war es mir leider nicht möglich. Als Schmutzli
und ich heute Abend losgingen, war dieser Sack hier proppenvoll, da wir natürlich
sehr, sehr viele Kinder besuchen müssen. Platz für einen Webrahmen hatten wir da
beim besten Willen nicht mehr, nachdem wir dir schon diesen Beutel mit den
verlorenen Sachen bringen mussten."
Ninas anfängliche Niedergeschlagenheit legte sich rasch wieder. Schliesslich war es
ja auch schön, die anderen Dinge wiederzuhaben. Sie legte sich Vaters Perlenkette
um den Hals und beschloss, sich zu bessern. Und da sie sich bis Weihnachten
wirklich fürchterlich anstrengte, war sie kein bisschen erstaunt, ausser der neuen
Puppe auch den Heissersehnten Webrahmen unter dem Weihnachtsbaum zu finden.
"Finde ich echt lieb vom Nikolaus, dass er dem Christkind gleich den Webrahmen
mitgegeben hat", strahlte sie zufrieden.